Historisches: Eine Zeitreise durch Hildesheims Oststadt
Die Hildesheimer Oststadt wurde in der Blütezeit des Deutschen Kaiserreichs, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, städtebaulich geplant und entwickelt. In der Staatsform einer konstitutionellen Monarchie war Wilhelm I. noch gleichzeitig Deutscher Kaiser und König von Preußen. Beim Bau eines komplett neuen Stadtteils, jenseits der ursprünglichen Tore, ging es den Hildesheimern damals vorrangig um die Beschaffung von Wohnraum für die stetig wachsende, arbeitende Bevölkerung und das Bereitstellen von Gewerbeflächen für das lokale Handwerk. Um diese Ziele zu erreichen, wurde die für die Epoche typische, "preußische" Blockrandbebauung gewählt. Dadurch entstanden im selben Zug gewaltige, grüne Innenhöfe mit Nutz- und Freizeitgärten und zusätzlichem Platz für Werkstätten und Lagerräume. Baubeginn für unser Haus war der Mai des Jahres 1882. Es gehört damit zweifelsfrei zu den ältesten und ersten, bürgerlichen Wohngebäuden der Oststadt, zu den Häusern, die auch wegen ihrer massiven Bauweise als Backsteinhaus robust und widerstandsfähig sogar den 2. Weltkrieg nahezu unbeschadet überstehen konnten. Zusammen mit dem Nachbarhaus, Moltkestraße 90, bildet es ein schützenswertes, städtebauliches Ensemble. Es handelt sich also um ein historisches Gebäude, das substanziell mit großem Aufwand erhalten werden konnte. Die Erdgeschosswohnung befindet sich im "Hochparterre", Usus für den vorherrschenden Baustil der Gründerzeit. Im Untergeschoss wurden "preußische Kappendecken" eingezogen. Das sind Tonnengewölbe, die auf massiven Stahlträgern gelagert werden, für die Zeit der industriellen Revolution die fortschrittlichste, modernste Technik widerspiegeln und bei enormer Raumhöhe die volle Nutzbarkeit der Keller eröffnete. Heute befinden sich dort der "Versorgungskeller", eine typisch niedersächsische Schankwirtschaft, "Fütterers Weinstube" im ehemaligen Kohlenkeller, ein Wasch- und Trockencenter für unsere Hausgäste und absolut schalldichte Kabinen für Instrumentalmusiker und Sänger. Die oberen Etagen werden durch eine hölzerne Wendeltreppe erschlossen. In eine innen liegende, nicht sichtbare Fachwerkkonstruktion wurden schwere Holzbalkendecken eingehängt, die ein überaus angenehmes Begehen der Fußböden gewährleisten.
Eine Originalaufnahme aus den "goldenen 20-zigern" samt Nachbarhaus: Die gasbetriebene Laterne an unserem Haus sorgte schon vor mehr als 100 Jahren für Sicherheit während der Nacht und das war "revolutionär" in der Zeit der Weimarer Republik! Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, heute Moltkestraße Nr. 2, befand sich bis zur fast totalen Zerstörung Hildesheims städtebaulicher Schönheit durch einen Terrorangriff einer britisch-kanadischen Bomberstaffel am 22. März 1945 das Biergartenlokal der Oststadt. In amtlichen Archiven wird der Tod von 1.736 Bürgern während des Luftkriegs über Hildesheim ausgewiesen und auch unseren Dachstuhl haben damals Splitterteile einer Brandbombe getroffen. Die Veteranen des 1. Weltkriegs, die seinerzeit an der "Heimatfront" ihren Dienst leisteten und im Haus lebten, fanden Schutz in den Gewölbekellern und waren vorbereitet. Das trotzdem mächtige Feuer konnte mit vereinten Kräften ohne fremde Hilfe tatsächlich gelöscht werden. Niemand wurde verletzt! Bei der aufwendigen Sanierung des Dachgeschosses haben wir die "letzten" Spuren des Brands sorgfältig dokumentiert.
Alle "alten Männer" des Stadtteils hatten im Lokal auf der anderen Straßenseite ihren eigenen Bierkrug deponiert, aus dem sie sich abends ehrgeizig labten. Ihre Ehefrauen wussten stets, wo sie den vermeintlichen "Herrn des Hauses" in froher Runde antreffen konnten. Ein "Bismarckhering" hat schon damals dazu gehört! Legendär waren auch die Bratheringe, wegen deren ausladenden Dufts nur zu oft das gesamte Viertel in Verzückung geriet. Das Bier lieferte die lokale "Hildesheimer Aktienbrauerei", die zunächst mit der Moritzberg-Mauritius-Brauerei, in den Jahren 1921/1922 mit der Dampfbierbrauerei der Stadt Einbeck fusionierte und seit 1967 als Einbecker Brauhaus AG ("Ohne Einbeck gäb´s kein Bockbier!") bis heute firmiert. Pfandflaschen gab es nur wenige. Für den Hausgebrauch wurde die "Erfrischung" in gewaltigen, reich verzierten Tonkrügen direkt am Tresen abgefüllt. Wir führen diese Tradition, quasi an Ort und Stelle fort und bieten unseren Gästen heute frisch Gezapftes, jedoch im feinen Glas. Unseren Fisch beziehen wir ausschließlich aus zertifizierter, nachhaltiger Aufzucht. Marinierte und gebratene Meerestiere kommen auch in Würdigung des "alten Stammplatzes" heutzutage nur hausgemacht auf den Tisch unserer Gäste.
Unser Urgroßvater, der Maurerpolier Ludwig Fütterer kam im Jahr 1875 zusammen mit seiner Frau, der "schönen" Wilhelmine aus Obernfeld, einer kleinen niedersächsischen Gemeinde im Untereichsfeld nach Hildesheim. Vom Mai des Jahres 1882 bis zum Sommer 1884 errichtete er das neue Stammhaus der Familie im Herzen der Oststadt mit eigener Muskelkraft und Hilfe seiner Brüder, die allesamt ebenfalls Handwerker waren. Durch Beschluss des Magistrats vom 31. Juli 1894 wurden ihm die hiesigen Bürgerrechte verliehen. Und in vierter Generation führen heute meine Frau Sabine, die "beste Frau Fütterer der Welt!" und ich selbst in direkter Erb- und Rechtsnachfolge dieses Bürgerrecht an Ort und Stelle fort. Wir sind "Oststädter" mit ganzem Herzen, einer langen Familiengeschichte am Platz, die in ihrer steten Liebe zum Quartier begründet bleibt. Anno 1985 habe ich in Fortführung der Tradition begonnen, das Gebäude in der Moltkestrasse 89 von Grund auf, genauso wie in den Jahren seiner Erbauung in kompletter Eigenleistung zu sanieren und zu modernisieren, das daraus zu machen, was sich 35 Jahre später unseren Besuchern stilsicher, wie aus "einem Guss" heraus präsentiert. Das Erhalten und Bewahren des Charmes des "alten Gemäuers" blieb dabei der immerwährende Impetus meiner Bemühungen. In jedem Bauabschnitt wurden zeitgeschichtliche Dokumente verborgen, genauso, wie es der Brauch unserer Vorfahren seit dem 19. Jahrhundert vorgibt.
Die Hildesheimer hatten schon bis in die frühe Neuzeit hinein teils verheerende Kriege geführt. Erinnert sei an die ruhmlose Stiftsfehde, die, ausgelöst vom katholischen Fürstbischof Johann IV., zwischen 1519 und 1523 auch zahllose Opfer unter der Zivilbevölkerung forderte, ein unsägliches Gemetzel, das oft als "die letzte mittelalterliche Fehde überhaupt" bezeichnet wird.
Hildesheim war seit 1643 ununterbrochen Militärstandort bis im Jahr 2007, im Zuge der Transformation der Streitkräfte der Bundeswehr auch die letzte, lokale Kaserne geschlossen wurde. Bereits 1993 hatten britische Soldaten mit großem Pomp die Stadt verlassen. Das Kreiswehrersatzamt, das witzigerweise in der "Waterloostraße" einquartiert war, wurde nach 41-jährigem Bestehen 1997 aufgelöst. In dem maroden Gebäudekomplex kamen erst vor wenigen Jahren nach aufwendigen Sanierungsmaßnahmen ein Kindergarten und der private Musikschulverein unter. Heute gibt es weder Haubitzen, noch Panzer oder Kampf-Hubschrauber bei uns, aber die Straßennamen der Oststadt verweisen in mehrfacher Hinsicht auf den Verlauf der deutschen Geschichte, deren Mitdenker und die nationale Verantwortung für kriegerischen Wahn und seine zwangsläufigen Folgen:
Das zerbombte Hildesheim "drei Tage danach". Originalaufnahme vom 25.03.1945 der kanadischen Luftaufklärung, wiederentdeckt in britischen Royal-Airforce Archiven im Januar 1961 von meinem Vater, Hans-Ludwig Fütterer, einem Journalisten und Fotografen aus innerster Überzeugung, der nach seiner Entlassung aus englischer Kriegsgefangenschaft die Hildesheimer Presse-Landschaft zeitlebens maßgeblich mitgestaltet hat. Die Andreaskirche und die Rückseite des Rathauses sind deutlich erkennbar. Mittig vorn schlängelt sich die "Goslarsche Straße" durch´s Bild, die direkt zu den oststädter Kasernen führte, unten rechts erahnen Sie vielleicht die Reste der "Binderstraße", die geradeaus in die "Steingrube" mündet.
Die Oststadt wurde fast ein Jahrhundert lang von der Steingrubenkaserne und dem vorgelagerten baum- und strauchlosen Exerzierplatz, einer nunmehr innerstädtischen, "grünen Lunge" mit großzügiger Kinderspiel- und Basketballanlage, einem modernen Seniorenparcour, Bouleplatz, kostenfreiem Fitnessbereich und sogar einem Verkehrskindergarten, dominiert. Die "Steingrube" ist in städtischen Urkunden erstmals im Jahr 1324 erwähnt als Steinbruch, der aber wegen seines geringen Ertrags schon bald wieder verfüllt wurde. Im Mittelalter diente die große Wiese, damals noch vor den Stadttoren gelegen, als öffentliche Hinrichtungsstätte.
Verbrennungen auf dem Scheiterhaufen wurden im Namen der katholischen Kirche als öffentliches Spektakel jahrmarktähnlich inszeniert und dienten in erster Linie der Abschreckung. Beliebt waren auch das "Sieden in der Pfanne", die strenge Strafe für Falschmünzer und das "Rädern" als Todesstrafe für Mörder und Straßenräuber. Das "Vierteilen" war die Folge des Verrats. Der Tod durch den Strang wurde weithin sichtbar auf dem früher noch unbewaldeten, nahen "Galgenberg" zelebriert. Jahrzehntelang stand dort neben dem im Original erhaltenen, mehrschläfrigen Galgen ein nettes, überaus beliebtes Ausflugsrestaurant mit quirligem Tanzbetrieb, und kein Gast, der genüsslich auf der Terrasse seinen Kaffee schlürfte, wurde auf die makabre Situation jemals hingewiesen. Das hat sich auch nach der aufwendigen Sanierung des Objekts zum "Nobel-Steakhouse", die bis zum Winter 2014 andauerte, nicht geändert.
Enthauptungen, die "vornehmste" aller Methoden gab es jedoch nur direkt auf dem Marktplatz, gleich vor der Rathaustreppe, wo heute quasi ganzjährig frohe Feste gefeiert werden und Oberbürgermeister und Rat der Stadt ähnlich kluge und folgenschwere Urteile fällen wie im Mittelalter.
Während der Zeit des Nazi-Regimes erlangten die Steingrubenkaserne, die Aufklärungsflieger- und Flugbildschule im Norden der Stadt, wo auch unter strengster Geheimhaltung ein Fallschirmjäger-Regiment (Deckname "Hummel") auf seine Einsätze vorbereitet wurde, eine besondere, strategische und machtpolitische Bedeutung und wurden tatkräftig für die Demonstration nationalsozialistischen Gedankenguts missbraucht. Kein Wunder, dass diese Kaserne als einzige der Stadt im Krieg vollständig zerstört wurde und genau an dieser Stelle damals die allerersten Bomben einschlugen. Nach dem Krieg faszinierte auf der "Steingrube" Kurt Schumacher die Massen und Louis Armstrong spielte tatsächlich im April des Jahres 1962 auch in Hildesheim!
Wenn Sie mit dem eigenen Fahrzeug, mit Taxi oder Bus, zu Fuß die Moltkestraße von außerhalb erreichen, führt Ihr Weg oft über die Bismarckstraße und den Bismarckplatz zum Ziel. Am südlichen Ende der Moltkestraße befindet sich seit 1961 das Hildesheimer "Scharnhorstgymnasium" genau an der Stelle der ehemaligen Kaserne. Gerhard von Scharnhorst, preußischer General war ein großer Reformator in seiner Zeit und der Organisator der preußischen Heeresreform. In der mathematisch-naturwissenschaftlich und gleichzeitig sprachlich ausgerichteten Schule werden nun politische Bildung, freies Denken und Handeln besonders gefördert, zur Zeit der linken Anarchie, während Helmut Schmidt noch Bundeskanzler war, aber auch schon mal einem Oberstudienrat, langjährigem, lokalem SPD-Mitglied wegen angeblich KPD-naher Äußerungen vom Kultusminister des Landes Niedersachsen vorübergehend das Unterrichten verboten. Die Oststadt ist ein gewachsener Teil Hildesheims, in dem sich verschiedene Kulturen und politische Überzeugungen gerieben haben und nun harmonisch zusammen leben, deren konservative Basis sich gern in alle Richtungen geöffnet hat. Die vormalige Kasernenstraße wurde umbenannt in "Eichendorffstraße", ein klares Symbol des Umdenkens und der geistigen Erneuerung. Hildesheim, Sitz katholischer Bischöfe seit dem Jahr 1215, hat heute eine mehrheitlich protestantische Bevölkerung.
Otto von Bismarck (links), Albrecht von Roon (Mitte) und Helmuth Karl Bernhard von Moltke¹ (rechts), "Der große Schweiger", Generalfeldmarschall und Chef des Generalsstabs unter Friedrich III., verkörpern das militärisch-strategische und sozial-politische Gewissen der preußischen Herrschaft über die Mitte Europas, schließlich war Bismarck auch einer der Väter des deutschen Sozialversicherungssystems. Es ist nachvollziehbar, dass unsere Straßennamen die unbestrittenen Leistungen der Namensgeber und gleichzeitig die militärische Historie Preußens würdigen sollen. Helmuth James von Moltke war nun Mitglied des Kreisauer Kreises, als direkter Nachfahre Helmuth Karl Bernhards tatsächlich ein Widerstandskämpfer, der im NS-Konzentrationslager Ravensbrück weggesperrt und später, noch kurz vor Ende des zweiten Weltkriegs in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde. In der Oststadt erinnern Namen an Siege und Niederlagen, vornehmlich an die des deutsch-französischen Kriegs (1870/1871), die gewaltigen Schlachten von Gravelotte, Orléans, Sedan, Spichern, Weißenburg und Wörth, aber auch an Napoleon Bonapartes "Waterloo" (1815), an die besonderen Verdienste der adeligen Herren von Voigt-Rhetz, von Bahrfeldt, von Goeben und von Steuben. Querstraßen sind allerdings nach den großen deutschen Dichtern und Denkern Goethe, Lessing und Schiller benannt. Beim genauen Hinschauen fügt sich hier, wenn der geneigte Betrachter auch "querdenken" wollte, irgendwie vieles sinnerfüllt zusammen. Und ohne jährliche "Steuben-Parade", ohne jedes überkommene, aristokratische Zweiklassendenken und ohne den klerikalen Wahn der Hexenverbrennungen vor der Haustür leben wir gern in der Moltkestraße und freuen uns darauf, unsere Begeisterung für den Stadtteil mit Ihnen zu teilen!
1. Quelle: Bismarck. Des eisernen Kanzlers Leben in annährend 200 seltenen Bildern nebst einer Einführung. Herausgegeber: Walter Stein. Hermann Montanus Verlagsbuchhandlung Siegen und Leipzig. - Gemälde "Tod des Majors von Hadeln" von Carl Röchling (1898).